Einleitung
Methylphenidat, kurz MPH (Medikamente wie Ritalin®, Concerta®, Focalin XR®, Medikinet MR®), ist der Wirkstoff der Wahl zur Behandlung eines klinisch relevanten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS). Die Suchtmedizin ist von diesem Zusammenhang in doppelter Hinsicht betroffen:
- Menschen mit ADHS haben ein deutlich erhöhtes Risiko, Abhängigkeitsstörungen zu entwickeln.
- MPH ist eine amphetaminähnliche Substanz, die auf der Liste der Betäubungsmittel steht und ein Abhängigkeitspotential aufweist.
MPH ist ein Wirkstoff, der im Fokus der Öffentlichkeit steht. Die zunehmende Anwendung von MPH in den letzten Jahren führte zu politischen Bestrebungen, dessen Verschreibung weiter einzuschränken. Aus suchtmedizinscher Sicht ist dieses nicht gerechtfertigt, denn MPH-haltige Medikamente sind sichere Medikamente mit kleinem Abhängigkeitspotential und einer grossen Effektstärke. Andere Psychopharmaka haben eine deutlich höhere Steigerung der Verschreibung erfahren (z.B. Antidepressiva), ohne dass politische Kräfte in den ärztlichen Kompetenzbereich eingewirkt hätten. Es gibt andere Substanzen mit massiv höherem Abhängigkeitspotential (insbesondere Benzodiazepine), deren Verschreibung nicht den verschärften Bestimmungen eines Betäubungsmittels unterliegt.
Forschung und klinische Praxis zeigen im Kontext von ADHS und Sucht die folgenden Zusammenhänge auf:
- Die Behandlung eines klinisch relevanten ADHS führt nicht zu einer Abhängigkeit von MPH.
Die Substanz lässt sich in der Regel problemlos absetzen, wobei das verstärkte Wiederauftreten der ADH-Symptomatik nach dem Absetzen von MPH aber durchaus zum Bedürfnis nach einer erneuten Einnahme führen kann. - Die Behandlung eines klinisch relevanten ADHS bei Kindern und Jugendlichen mit MPH reduziert in der Tendenz die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung von legalen oder illegalen Substanzen.
Im Normalfall erfolgt die Behandlung eines ADHS nicht alleine medikamentös, sondern immer zusammen mit einer entsprechenden Begleittherapie (z.B. kognitiv-behaviorale Therapie, Fertigkeitstraining, achtsamkeitsbasierte Verfahren, Familientherapie, heilpädagogische Förderung, Sport, etc.). Kombinierte Behandlungen sind rein medikamentösen Behandlungen bezüglich der Symptomreduktion signifikant überlegen. - Menschen mit unbehandelter ADHS entwickeln signifikant häufiger Substanzstörungen als die Normalbevölkerung.
Insbesondere ist die Raucherquote deutlich erhöht. Cannabis wird von Menschen mit ADHS gehäuft längerfristig konsumiert, im Gegensatz zum Freizeit- und Experimentierkonsum, der sich bei unbelasteten Adoleszentinnen und Adoleszenten meist im Erwachsenenalter legt. -
Inwieweit eine Behandlung mit MPH die Entwicklung von Substanzstörungen begünstigen kann, ist derzeit noch unklar. Die bislang verfügbare Evidenz basiert auf Sekundäranalysen, während prospektive Studien mit primärer Ausrichtung auf die Forschungsfrage noch ausstehen. Die vorhandenen Ergebnisse sind widersprüchlich, weisen aber keinesfalls in die Richtung einer durch MPH ausgelösten Gefährdung für Substanzstörungen.
Eine unbehandelte ADHS gilt dagegen als Risikofaktor für die Entwicklung von Substanzstörungen. ADHS-Betroffene, die bereits im Kindesalter mit MPH behandelt wurden, wiesen in einer Studie denn auch ein um den Faktor 1.9 reduziertes Risiko für die Entwicklung einer Substanzstörung im Vergleich zu unbehandelten Betroffenen auf. -
Eine Behandlung mit MPH wirkt gegen die Symptomatik des ADHS und verbessert die Fähigkeit zur Selbstorganisation, die Impulskontrolle und die Konzentrationsfähigkeit. Dies kann für die erfolgreiche Lebensbewältigung sehr hilfreich sein, wenn die Patientinnen und Patienten z.B. administrative Dinge besser bewältigen können (Rechnungen einzahlen), weniger soziale Konflikte bekommen und ihr intellektuelles Potenzial besser ausspielen können, weil sie sich besser und länger konzentrieren können (Arbeits- und Lernfähigkeit). Eine Behandlung mit MPH soll mit nicht-pharmakologischen Massnahmen unterstützt worden.
- In der Behandlung von Menschen mit Substanzstörungen und ADHS sind einige Besonderheiten zu beachten, die im Kapitel Missbrauch von MPH weiter behandelt werden. Generell kontraindiziert ist eine Behandlung mit MPH in akuten Substanzkonsumphasen.